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Salome Ridder (12 Jahre): Heimat to go.

Da saß ich nun, schon wieder. Das siebte Mal in meinem Leben in einem wackelnden Flieger, der mein ganzes Leben wieder auf den Kopf stellen würde. Und dann saß da neben mir auch noch dieser Typ. Ich kannte ihn noch nicht so lange, erst seit ungefähr vier Monaten. Viel wusste ich nicht über ihn, ich verweigerte aber auch alle Gespräche, die er anfing. Ich wusste nur, dass er Mark hieß, seine Lieblingsfarbe rot war, er einen 13-jährigen Sohn namens Ben besaß, einen totalen Knall hatte, das stand fest, und Überraschungen und spontane Leute liebte. Ja, da hatte er ja die richtige gefunden: meine Mutter! Die hatte er nämlich vor drei Wochen gefragt, ob sie ihn heiraten wollte und sie hat auch noch „Ja“ gesagt. Hallo? Sie hat nicht einmal nach meiner und der Meinung von meiner Schwester Fanny gefragt!
Dann ist Mark samt seinem Sohn mit uns umgezogen. Aber nicht nur so ein Umzug drei Straßen weiter, sondern gleich von England nach Hong Kong. Weil Mark so spontan mit uns umzog, nannten meine Schwester und ich ihn auch heimlich „die Überraschung“.
Tja, und dann begann die Sache, dass er sich total bei uns einschleimte: er machte uns massenweise Geschenke. Ich bekam ein Trampolin, drei Bücher und ein Schminkset. Nur bei meiner kleinen Schwester Fanny lag er mit seinem Geschenk etwas daneben: für ein Lillyfee- Kostüm war sie mit ihren fast 12 Jahren nämlich schon ein bisschen zu alt. Das mit dem Einschleimen machte meine Mutter auch bei meinem neuen 13-Jährigen Stiefbruder. Sie schenkte ihm ein Pennyboard. Hallo?! Erde an meine Mutter? Ein Pennyboard wünschte ich mir schon seit fast zwei Jahren! Das ging nun wirklich zu weit.
Na ja. Da saß ich nun neben diesem Mann, der mir andauernd Oreos anbot. Ihr wisst schon, diese schwarzen Kekse, wo in der Mitte dieses Weiße ist, das man so gut mit den Zähnen abkratzen kann, was aber megaekelhaft ist.
Als das Flugzeug endlich auf dem Flughafen ankam, war es gefühlt einen Monat her, dass meine Füße festen Erdboden berührt hatten. Am liebsten hätte ich den Boden geküsst, doch dafür war er mir doch etwas zu dreckig.
Am Abend kamen wir in unserer 21⁄2-Zimmerwohnung an. Mein Zimmer zählte nur halb, weil es erstens das kleinste Zimmer in der Wohnung war und zweitens, weil ich es mir mit Ben und Fanny teilen musste. Ich stellte fest, dass es die kleinste Wohnung war, die wir je hatten. Und glaubt mir, ich habe sehr, sehr viel Erfahrung ... Ich bin nämlich schon sieben Mal umgezogen, da meine Mutter beim Auswärtigen Amt arbeitet. Okay, ich muss zugeben, von unserer letzten Wohnung, eigentlich war es eine Villa, war ich noch sehr verwöhnt. Ich hatte in England zwei Zimmer und ein eigenes Bad!
„Tock tock!“ Irgendjemand klopfte an unsere Tür. Meine kam Mutter rein. „Liv, du bist ja immer noch nicht angezogen!“ Als ich auf den Wecker schaute, bekam ich fast einen hysterischen Anfall: Es war 20 Minuten vor acht! Der Wecker hätte schon vor 40 Minuten klingeln sollen!
„Ben hat gesagt, dass er dich schon aufgeweckt hat?“ sagte Mom. „Na warte Ben, das bekommst du noch zurück!“, dachte ich. Ich sprang auf und schlüpfte in die Schuluniform, die meine Mutter gerade noch in der Hand gehalten hatte. Da stellte ich entsetzt fest, dass sie mir viel zu klein war. „MAMA! Ich sehe aus sie eine aufgeplatzte Presswurst!“
„Oops!“, sagte meine Mutter. „Ich muss sie wohl etwas zu klein bestellt haben.“
HALLO? Geht’s noch? Die eigene Mutter muss doch wohl wissen, was für eine Klamottengröße man hat? Heute war mein erster Schultag in meiner neuen Schule. Leider habe ich nur drei klitzekleine Probleme: Erstens beginnt in 20 Minuten die Schule und ich wusste nicht, ob ich die Idee an meinem ersten Schultag zu spät zu kommen so prickelnd finden sollte. Zweitens sehe ich in der neuen Schuluniform aus wie eine aufgeplatzte Presswurst. Und drittens ist die Bilingual China Middel School eine Englisch-Chinesische Schule und ich kann kein Wort Chinesisch! Im Gegenteil zu Ben, meinem Stiefbruder. Er hatte nämlich schon seit zwei Jahren Chinesisch-Unterricht und ganz nebenbei lernte er auch noch Portugiesisch und Russisch. Und zu allem Überfluss machte er das auch noch freiwillig!
Als Mama mich vor der Schule absetzte, hatte meine erste Stunde schon vor 15 Minuten begonnen. Ich hatte mich so beeilt, dass ich es nicht einmal mehr schaffte zu frühstücken, und laut eines von Mamas Bio-Esoterik-Büchern ist das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages.
Ich hetzte die Treppen hinauf. Zum Glück wusste ich, dass meine erste Stunde im Raum Nummer 104 war, und ich hatte Glück, dass sie Englisch war! Leise klopfte ich an. Eine schneidende Stimme brüllte: Herein!“.
Im Klassenraum war es still. Es war schon fast gruselig! Meine Lehrerin durchbohrte mich mit ihrem eisigen Blick und fragte mich dann mir ihrer schneidenden Stimme: „ Du musst Liv sein, oder?“ Leise piepste ich ein kleinlautes „ja“ hervor. Die Lehrerin sagte: „Ich heiße Frau Sour“.
Insgeheim dachte ich mir, dass dieser Name sehr zu ihr passte. Als sie sagte: „Du kannst dich dahinten hinsetzen, aber eine mündliche Sechs bekommst du schon ...“ rutschte mir mein Herz in die Hose. Ich saß neben einem Jungen. Er hatte so ein Ich-bin-besser-als-ihr-anderen- grinsen und trug eine Basecap. „Was hast du denn mit deiner Schuluniform gemacht?“, fragte er mich und grinste dann wieder sein blödes Grinsen. Ich guckte ihn böse an und setzte mich hin. „Angeber“, dachte ich nur.
Den Rest des Tages bekam ich fast nichts vom Unterricht mit und verstand nur, dass wir in Englisch einen Vortrag über das Thema „Was für uns Heimat ist“ vorbereiten sollten. Und zwar in einer Woche! Ich bin mir sicher, dass sich Frau Sour das extra für mich ausgedacht hatte, um mich zu ärgern!
Ich war übermäßig glücklich, als die Schulglocke verkündete, dass der Schultag zu Ende war. Zuhause machte ich mir massenweise Gedanken, was ich für meinen Vortrag schreiben sollte. Doch alles, was ich anfing, landete zwei Minuten später zerknüllt im Mülleimer.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Jeden Abend dachte ich fieberhaft über den Vortrag nach, doch es viel mir einfach nichts ein. Mittwochnachmittag, als ich gerade aus dem Schulgebäude heraus zu den Fahrradständern lief, lehnte dort, direkt neben meinem Fahrrad an der Wand, der arrogante Angeber und „Cooltuer“, ihr wisst schon, der Junge der neben mir saß und glotzte mich an. Als ich gerade mein Fahrrad aufschließen wollte, fragte er mich: „Du heißt mit Nachnamen Melonenbaum, oder?“ Schnippisch antwortete ich ihm: „Tja, es kann ja nicht jeder Müller oder Schneider heißen.“ Lange glotzte er mich an, bis er schließlich sagte: „Die Arbeitskollegin von meinem Vater heißt Frau Melonenbaum.“ Langsam drehte ich mich um, und dann fragte ich ihn: „Wo arbeitet dein Vater?“. „Er arbeitet beim Auswärtigem Amt“, sagte er. Und ich antwortete: „Meine Mom auch.“
„Ich stellte in den nächsten Tagen fest, dass der "Cooltuer" tatsächlich cool war und doch nicht so arrogant, wie ich dachte. Eigentlich war er sogar ganz lustig. Ach ja, und er hieß in echt natürlich auch nicht „Cooltuer“ sondern John und kam aus Brasilien.
Am Freitagabend kam mir plötzlich die passende Idee für meinen Vortrag. Ich durchwühlte alle Kartons nach dieser einen Kiste. Meine Mutter wurde schon ganz verrückt von meiner hektischen Suche. Meine Idee war einfach genial!
Ich war das ganze Wochenende lang mit der Vorbereitung beschäftigt, während neben mir die Umzugskartons ausgepackt und die Sachen in die neuen Regale eingeräumt wurden. Ich musste mindestens zehn Mal mit allen meinen Materialien umziehen, weil dort, wo ich gerade saß, irgendein Sofa oder Schrank hingeschoben werden musste. Am Ende saß ich in unserem winzigen Bad in der Badewanne und machte dort alle Notizen für meinen Vortrag.
Dann war es so weit: der Montag, an dem wir alle unseren Vortrag halten sollten, war da. An diesem Morgen lief ich zusammen mit John zur Schule. John hielt seinen Vortrag über Brasilien, weil er dort gelebt hatte, bevor sein Vater beim Auswärtigen Amt zu arbeiten begann. Danach frage er mich, was ich denn ich dem Koffer hätte, doch ich antwortete ihm nur: „Tja, das wird eine Überraschung“.
Als John und ich den Klassenraum betraten, wurde mir plötzlich komisch. Alles drehte sich und mir wurde schwindlig. „Alles Okay mit dir?“ fragte mich John. Ich nickte nur als Antwort und setzte mich hin. Nacheinander wurden unsere Namen aufgerufen. John war vor mir dran, da das K vor dem M im Alphabet steht. Sein Vortrag war megagigantomanisch und fantastisch. Er bekam für seinen Vortrag eine zwei ...und ich war entsetzt. „Das hätte ein eins plus sein sollten“, flüsterte ich ihm zu, als er sich wieder neben mich setzte. Aber er schien ziemlich mit seiner Note glücklich zu sein.
Da wurde mein Name aufgerufen: „Liv Melonenbaum“. Langsam stand ich auf. John flüsterte mir noch zu: „Viel Glück!“ Dann ging ich nach vorne zur Tafel. Plötzlich drehte sich wieder alles, und als ich versuchte, mir meinen Vortrag wieder in Gedächtnis zu rufen, wurde es noch schlimmer.
Ich starrte auf das Papier mit meinen Notizen, doch die Buchstaben verschwommen vor meinen Augen. Sie tanzten und sprangen vor meiner Nase auf dem Papier herum. Die drei wurde müde und legte sich hin und wurde zu einem kleinen „m“, das sich wiederum auf den Bauch legte und zu einem kleinen „w“ wurde. Die Neun machte Kopfstand und wurde zu einer sechs, und der Punkt machte vier Saltos hintereinander und landete dann drei Sätze weiter hinten. Eine kleine Stimme in meinem Kopf brüllte mir zu, dass ich versagen und kein Wort heraus bekommen würde. Die Stimme meiner Lehrerin holte mich zurück in die Realität. Sie sagte: „Na Liv, wird’s bald?“ Und plötzlich sah ich wieder klar. Die Buchstaben sprangen nicht mehr hin und her. Sie saßen nur da, als wären sie zu Stein erstarrt. Ich legte meinen Koffer auf den Tisch, öffnete ihn und begann:
„Meine Mutter arbeitet beim Auswärtigen Amt und deshalb bin ich schon sieben Mal umgezogen. Ich habe keine Heimat, wie sich die meisten Leute Heimat vorstellen. Ich bin dort zuhause, wo ich gerade wohne. Ich habe nur diesen Koffer. Er bedeutet für mich Heimat, denn darin bewahre ich die Dinge auf, die mich am meisten an die Länder erinnern, wo ich einmal eine Heimat hatte“. Ich kramte alle Gegenstände aus dem Koffer und zeigte sie der Klasse. „Aus Spanien, Lanzarote, dem Land, in dem ich geboren wurde, habe ich einen Olivin- Edelstein, den ich bei einer Wanderung in einer Bucht gefunden habe. Aus Deutschland, Berlin, besitze ich einen kleinen Berliner Bären von einem Flohmarkt. Aus Afrika, der Elfenbeinküste, habe ich eine Kette mit einem Elefantenanhänger, den mir meine beste Freundin an meinem letzten Schultag geschenkt hat. Aus Kuba, Havanna, habe ich eine kleine Blechkamera, die ich von unserem Wächter mal geschenkt bekam. Er hat sie selbst aus einer alten Getränkedose gebastelt. Aus Japan, Tokio, habe ich diese Essstäbchen mit Kranichen und Kirschblüten. Ich habe diese bekommen, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, weil ich schlecht gewordenes Sushi gegessen und eine Lebensmittelvergiftung bekommen hatte. Aus Amerika, Washington DC, besitze ich dieses Verpackungspapier von einem riesigen Kaugummi, der deine Zunge färbt und knallt, wenn du ihn kaust. Aus England, London, dort wo ich gerade weggezogen bin, habe ich eine Tasse mit allen U-Bahnlinien drauf. Diese Tasse kaufte ich mir am Flughafen von meinem letzten Taschengeld. Alle die Dinge, die ich euch gerade gezeigt habe, bedeuten für mich Heimat.“ Alle applaudierten, ich hatte es geschafft! Aber das Wichtigste war, jetzt war mir selbst klar geworden, was für mich Heimat bedeutete.