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Literaturpreis Prenzlauer Berg 2019

Am Samstag, 6. April haben wir den diesjährigen Literaturpreis Prenzlauer Berg vergeben. bereits zum 19. Mal! In diesem Jahr war das Thema Aufbau & Niedergang. Junge Talente zwischen 16 und 35 Jahren haben ihre bisher unveröffentlichten Prosa-Texte eingereicht. Am Samstag nun fand vor der Jury aus Milena Adam (Matthes & Seitz Verlag), Claudia Kramatschek (freie Journalistin) und Nadine Schneider (Preisträgerin) die öffentliche Lesung statt.

Fotos: (c) Karla Buwert

1. Preis: Simone Lechner: "In einer Abalone"

Laudatio von Claudia Kramatschek:

Simone Lechner hat überzeugt mit einer Erzählung ganz eigenen Charakters. Sie nimmt uns mit in eine uns unbekannte Welt und in das Innenleben von Figuren, die in dieser Welt um ihren Platz ringen. Man ahnt – vor dem Hintergrund nur angedeuteter politischer Verwerfungen – von den Dramen des Vergeblichen. Und doch ist da nichts kitschig oder pathetisch. Im Gegenteil. Der Text verstrahlt eine spröde, raue Zärtlichkeit.

Mit wenigen Strichen wird dabei ein Setting, wird Atmosphäre erzeugt. Motive wie Johannes der Täufer werden sorgsam gesetzt, ohne sie je überzustrapazieren.

Wunderbar, wie plötzlich die Szenerie kippt: Es geht unter Wasser, einem drohenden Tod entgegen, und auch der Text gleitet in einen anderen Zustand. Dann wieder taucht alles zurück in die Welt des Realismus: Eine Rettung. Kurze ungeahnte Verbrüderung. Menschlichkeit. Zurück aber bleibt die Figur: allein. Für all das braucht die Autorin nicht viele Worte. Denn ihr Text spricht aus sich selbst.

 

2. Preis: Rina Schmeller: "Mit dieser neuen Durchlässigkeit"

Laudatio von Nadine Schneider:

Mit dem zweiten Platz zeichnen wir einen Text aus, der uns sehr überzeugend in die Atmosphäre eines zunehmend kleiner werdenden Kosmos mitgenommen hat.

Der Blick hat sich verengt, er geht tagtäglich aus dem Fenster, auf die Straße und das mintgrüne Haus gegenüber. Die Welt erschließt sich einem nur noch über Spekulationen: Warum ist der junge Mann neuerdings in Eile? Durch wen wurde der Hausmeister nach seiner Entlassung ersetzt?

„Noch ist nicht aller Tage Abend“ steht auf der Hauswand geschrieben und doch erzählt uns Rina Schmeller von dem Moment im Leben, bevor es wirklich aller Tage Abend ist: mit einer souveränen Schlichtheit, leiser Melancholie und äußerst präzisen Beobachtungen von einer enorm kleinen Warte aus – der Fensterbank.

Herzlichen Glückwunsch, Rina Schmeller!

 

3. Preis: Marie Lucienne Verse: "An der Brache"

Laudatio von Milena Adam:

Dank sparsam, aber treffsicher eingesetzter erzählerischer Kniffe gelingt es Marie Lucienne Verse in "An der Brache", mit wenigen Sätzen glaubwürdig und mit besonderem Blick fürs Detail die ganze Welt eines Heranwachsenden zu entwerfen, in der er – auf halben Weg zwischen Verwahrlosung und den ersten zaghaften Schritten der Selbstbehauptung – um den ihm zustehenden Platz kämpft.

Morgens die von Mutter geschmierten Pausenbrote, abends das erste Dosenbier: dazwischen das ganze Elend, die ganze Verwundbarkeit und Unsicherheit der Jugend. Die Initiation in die ideologisch fragwürdige Freizeitgestaltung der älteren Kinder bildet den Hintergrund einer höchst einfühlsamen Reflexion darüber, wie hoch der Preis des Dazugehörens ist – und warum wir stets versucht sind, ihn zu bezahlen.

 

TEXT SIMONE LECHNER: "In einer Abalone"

 

Wenn man die Abalone öffnet (das Gehäuse ist braun), sieht man als erstes einen gelben, glitschigen Körper. Wenn man diesen Körper dann entfernt hat, ihn vielleicht gekocht und sich ihn einverleibt hat, dann bleibt das irisierende Innere der Schale zurück. Perlmuttglanz, von dem Bokkie oft schon gedacht hat, dass es eine schöne Auskleidung für ein Zimmer wäre.

Es ist Wahnsinn, an der Atlantikküste nach Abalonen zu tauchen, wenn man keine Taucherausrüstung hat. Es ist Wahnsinn, die Abalonen herauszufischen, obwohl sie immer seltener werden, sie dem jungen Mann, der halb Chinese und halb einer von hier ist, zu geben, damit er sie nach Fernost schiffen kann. Damit sie dort als Spezialitäten verkauft werden. Bokkie denkt sich, wenn er klar ist, dass das alles reiner Wahnsinn ist. Wenn er nicht klar ist denkt er vor allem an Tik, und dann kommt ihm das alles normal vor. Natürlich vergeudet Bokkie seine Zukunft, das weiß er selbst. Das Saxophon, das liegt ungespielt seit vielen Monaten, die zu Jahren geworden sind, in der Ecke des Wohnzimmers. Bokkie wird wütend, wenn er daran denkt, dass er hätte berühmt sein können. Es gibt viele Dinge, die ihn wütend machen. Viele Dinge, die er verabscheut. Früher hat er gedacht, es ändert sich was. Es war immer davon die Rede, dass sich etwas ändert. Er wusste, wie verdammt arm er war, wie verdammt arm seine Eltern schon waren, und seine Kinder es sein würden. Die Frauen, mit denen er schlief, die wussten das auch. Vielleicht weinten sie manchmal, danach oder währenddessen. Aber sie saßen alle im selben Boot, die Frauen, mit ihm und allen anderen in den gottverlassenen Flats. Er hat sich gewünscht, dass mit dem Ende der Ungerechtigkeit auf dem Papier die auf der Straße endlich aufhört. Aber natürlich ist es nicht so. Er hätte es wissen können. Müssen, sogar. Er gehört schließlich zu denen, die nicht weiß und nicht schwarz genug sind, die immer zwischen zwei festgefahrenen Fronten kleben werden, so wie Fliegen an einer Windschutzscheibe auf dem Highway. Er bleibt arm.

Seine Eltern, arm. Mittlerweile arm und tot. Das Saxophon bleibt ungespielt. Aber das ist lange her, und in diesem Moment sitzt Bokkie allein mit dem Fischer im Boot. Der Fischer hat ihn hinaus auf das Meer gefahren, auf den dunkelblauen Atlantik. Bokkie blickt zurück in Richtung der Küste. Er schwitzt stark. Seine krausen Haare sind ungewaschen. Der Fischer, Jacob, bemüht sich, ihn nicht anzusehen. Bokkie fragt sich, wieviel der Chinaman im schlechtsitzenden Anzug Jacob bezahlt hat. Unmöglich, Jacobs Alter einzuschätzen. Zwischen dreißig und fünfzig ist alles drin bei den vom Wetter gegerbten Gesichtszügen. Der Schopf des Fischers ist voll, schwarz mit vereinzelten silbernen Haaren an den Schläfen. Seine Zähne sind schlecht, aber niemand hat hier gute Zähne. Instinktiv fährt sich Bokkie mit der Zunge über seine eigenen Zähne, über die Lücken dazwischen, und die brüchigen Stellen im Zahnschmelz. Sein Zahnfleisch juckt.

„Easy, boy, easy“, sagt Jacob, ohne sich zu ihm zu drehen. Dabei hält er das Steuerruder fest. Seine Knöchel stechen weiß auf dunkler Haut hervor. Bokkie denkt, dass er Jacob am liebsten die schlechten Zähne aus dem Gesicht schlagen würde. Er könnte es wahrscheinlich, denkt er, er ist Jacob körperlich überlegen. Weiß nicht, ob es wirklich so ist oder er das glaubt, ob es eine Konsequenz ist aus den vielen Jahren high und überlegen sein. Stattdessen sagt er „Ja, meneer“, brav, „Ja, meneer“, wendet seine Augen sogar ab dabei und richtet sie auf das Meer. Sie sind nicht weit weg von der Küste, aber im Schatten der Felsen. Bokkie hofft, dass Jacob weiß, wie man die Routen der Küstenpolizei vermeidet, aber er vertraut ihm eigentlich nicht. Angestrengt sucht er deswegen selbst den Horizont nach Spähern ab. Das Jucken hat sich mittlerweile in seinen gesamten Körper ausgebreitet. So, als würden winzige elektrische Aale durch seine Blutbahnen schwimmen.

„We’re here“, sagt Jacob plötzlich unvermittelt. Sein Englisch ist hart und kantig. Sie könnten Geschwister sein, Bokkie und er, ginge man nur nach dem Akzent und den Zähnen. Bokkie starrt ihn an, und Jacob macht eine hilflose Bewegung in Richtung des Wassers. Bokkie soll doch jetzt abtauchen, soll das vielleicht heißen, endlich hinuntertauchen und die Abalonen holen, damit sie hier wegkönnen. Er sieht auch irgendwie getrieben aus, Jacob, getrieben und unruhig. Vielleicht sagt er das auch, aber in Bokkies Ohren ist da dieses lange, glockenklare Piepen. Er kennt es. Es ist ein Warnsignal. Aber vor was? Er hat es vergessen. Er hätte berühmt sein können, das weiß Bokkie. Jetzt lässt er sich an der Seite des Bootes hinab in das kalte Wasser des Atlantiks. Kein Neoprenanzug. Fast nie, vielleicht manchmal im Winter, aber dann gibt es auch nicht wirklich Abalonen, dann lohnt sich das nicht. Bokkie blickt nach oben und Jacob zu ihm hinab. Ungebeten sieht er eine Szene vor seinem inneren Auge, von Johannes dem Täufer auf einem motorisierten Fischerboot, der sich zu ihm hinabbeugt und sein Haupt mit rauen Händen unter die Oberfläche presst, nachdem er die billige Taucherbrille über seinen Kopf gezogen hat. Bokkie lässt sich hinabsinken. Das glockenklare Piepen verdichtet sich zwischen seinen Ohren. Alle Geräusche weichen einem Rauschen. Er öffnet die Augen und blickt in trübes Gewässer. Er beugt sich nach vorne, mit Schwung, nutzt seine Hinterbeine, um sich in einem halben Salto im Wasser abwärts zu stoßen. Seine Füße durchbrechen die Wasseroberfläche, sind einen Moment lang noch kälter als der Rest von ihm, ehe sie seinem Körper in das kalte Nass des Atlantiks folgen. Er kann kaum sehen und muss sich den Weg ertasten. Zum Glück ist es so tief nicht. Seine Finger gleiten über Algen und über die Schalen von Muscheln, die wahrscheinlich Jakobsmuscheln sind, ehe sie etwas Größeres, etwas Grobes spüren. Jacob hatte wohl recht, hier liegen einige Abalonen dicht an dicht gedrängt nebeneinander. Das ist ungewöhnlich, aber er beklagt sich sicher nicht darüber. Bokkie greift sich zwei, eine in jede Hand und schwimmt nach oben. Durchbricht die Wasseroberfläche, lässt sich von der Kälte überrennen, übergibt die großen, muschelartigen Lebewesen an Jacob, und taucht dann wieder ab. Das wiederholt sich fünf Mal.

Beim sechsten Mal ist etwas anders. Erneut taucht Bokkie ab, erreicht die letzten drei verbliebenen Abalonen, und will nach einer von ihnen greifen. Er streckt die rechte Hand nach ihr aus, statt des Gehäuses ertastet er etwas anderes, etwas Warmes, Weiches. Da ist ein plötzlicher, starker Sog. Seine Hand ist gefangen in einer klebrigen Masse. Bokkie öffnet den Mund, um zu schreien und atmet Salzwasser ein, presst die Lippen schnell wieder fest aufeinander und versucht sich, panisch geworden, loszuziehen. Aber die Masse breitet sich weiter aus, über seinen Arm hinweg und zieht ihn zu sich. Verzweifelt blickt er durch die trübe Taucherbrille hoch, dorthin wo das Licht die Wasseroberfläche durchbricht und die Unterseite des Bootes unerreichbar weit entfernt im Wasser treibt, aber Jacob der Täufer sieht ihn nicht. Solange es geht versucht Bokkie die Luft anzuhalten. Nicht einzuatmen. Seine Lungen brennen. Seine Sicht verschwimmt, wird schwarz, aber er kämpft. Es ist eine glitschige Wärme, die ihn aufsaugt, ihn durch sich hindurchpresst. Ihm wird schwarz vor Augen.

Als Bokkie wieder zu sich kommt liegt er auf einer harten Unterlage. Versuchsweise bewegt er Arme und Beine und stellt sofort fest, das etwas falsch ist. Sein Kopf ist schwer und er kann ihn kaum bewegen. Er möchte nach Hilfe rufen, aber stattdessen entweicht ihm ein langer, kehliger Schrei. Über ihm beugt sich ein Mann herunter. Dessen Kopf ist riesig. Er hat lange, schwarze Haare und Koteletten, trägt einen weißen Ärztekittel und ein Stethoskop. Mit dem tastet er Bokkie ab, tastet seinen Brustkorb ab, bemerkt Bokkie nun, und auch, erschrocken, wie er mit seinen viel zu kurz geratenen Ärmchen und Beinchen strampelt. Wieder entweicht ihm ein Schrei, so laut und hoch, dass er das Gefühl hat, daran verenden zu müssen.

„He’s a strong boy“, hört er den Mann sagen, „Strong lungs.“ Dann nimmt der Mann ihn einfach auf den Arm – ganz ohne Anstrengungen, wie ihm scheint – und er möchte protestieren, aber natürlich hat Bokkie auch längst verstanden, dass das sinnlos wäre. Er schweigt und lässt sich tragen. Und blickt Minuten später in das junge Gesicht einer Frau mit dunkler Haut, die dunkelbraun gesprenkelt ist vor lauter Sommersprossen, in braune Augen, die sich in seinen wiederspiegeln, obwohl er das nicht sehen kann. Sie ist nicht besonders schön oder hässlich. Insgesamt kann er nicht ganz sagen, wie sie genau aussieht, das Bild ist verschwommen, natürlich, denkt Bokkie, weil Babies eigentlich bei der Geburt blind sind.

“Ag, who’s a good boy, ag, Bokkie”, gurrt sie, die Frau. Ihre Stimme ist leicht kratzig und beruhigend und Angst einflößend alles in einem, familiär und mütterlich. Bokkie will, dass das aufhört, und er schreit, schreit so laut er kann. Im nächsten Moment ist es wieder kalt und da ist eine harte Oberfläche unter ihm. Über ihm kniet Jacob, der Täufer, und tätschelt sein Gesicht. Er ist auch nass, ganz nass, und neben ihnen liegen die Abalonen und die Taucherbrille. Bokkie will so etwas fragen, warum Jacob ihn gerettet hat, aber ein bisschen Menschlichkeit an vergessenen Orten ist eigentlich keine Seltenheit. Er weiß aber nicht, ob er es Jacob gleichgetan hätte. Bokkie ist müde. Ihm ist nach Weinen zumute. Er blickt zu Jacob hoch, streckt die Hand nach dem Gesicht aus, vom Wetter so hart gezeichnet, so sehr gefickt, und Jacob lässt das zu, lässt sich dicht, ganz dicht an Bokkie heranziehen, vielleicht aus Angst.

Seine Haut ist weich und nass, merkt Bokkie, er wünscht sich etwas davon, etwas mehr, aber das ist schwierig zu bekommen, das weiß er, das gehört ihm nicht. Stattdessen flüstert er Jacob ins Ohr, flüstert: „Dink jy darem from time to time an jou moeder, Jacob?“ Und Jacob erwidert ja, das täte er, seine Mutter sei noch am Leben. Er denke oft an sie. Bokkie umklammert den Mann, und der fährt ihm durch das Haar. Sie sind beide nass, und es ist zwar in Ordnung, das Wetter, aber doch nicht warm genug - der Wind schneidet durch ihre durchnässte Kleidung. Mit dem Ellbogen stößt Bokkie an die Abalonen, die neben ihnen liegen. Dreizehn an der Zahl, sieht er, eine davon aufgebrochen und leer. Der Perlmuttglanz blendet ihn, und Jacob löst sich. Geht rüber zur Steuerung. Sie fahren zurück. Bokkie liegt auf dem Rücken und blickt hinauf in die Wolken, die über ihm hinweggleiten, unbeirrt, einfach so. Als gäbe es ihn gar nicht.

 

TEXT RINA SCHMELLER: "Mit dieser neuen Durchlässigkeit"

 

An einem Tag im September, kurz vor der Abenddämmerung, sieht Konrad Kolande draußen wieder den jungen Mann. Er eilt an dem Fenster seiner Wohnung vorüber. Komisch. Schon wieder in Eile, denkt sich Kolande.

Er steht auf, um ihm nachzusehen, was durch ein geschlossenes Erdgeschoßfenster nicht gerade einfach ist – da wird ihm klar, wie unsinnig dieser Aufwand eigentlich ist. Er setzt sich wieder. Der junge Mann ist ohnehin längst weg. Nun gut – das nächste Mal vielleicht, denkt Kolande.

Mit Blick nach draußen auf das Haus Nummer 9 sitzt er vor dem geschlossenen Fenster. Sein linker Arm ruht auf dem Fensterbrett, dessen heller Lack von der jahrelangen Feuchtigkeit rissig geworden ist. An kalten Morgen im Winter läuft Kondenswasser an der Scheibe herab. Es kümmert ihn nicht. Bald wird sie wiederkommen, die kalte Jahreszeit.

An der Straßenecke, vorne, schreit ein Kind.

Den jungen Mann sieht er häufig, seltener jedoch in der letzten Zeit, obwohl er weiß, dass er hier lebt – in dem Haus, in dem Kolande selbst seit sehr langer Zeit wohnt. Auch früher schon wohnte er hier, als Berlin noch geteilt war und die Mauer noch stand. Der Putz der Fassade bröckelte damals noch ab, er fiel auf die äußere Fensterbank, und im Sommer fegte Kolande den Staub weg, bevor er sein Kissen im Rahmen platzierte. Er liebte es, halb innen, halb außen zu sein und mit verschränkten Armen im Fenster zu lehnen.

„Ich halte es bei dir nicht mehr aus!“, hatte sie als allerletztes zu ihm gesagt und die Wohnungstür anschließend zugeknallt.

Er war zum Fenster geeilt, um nach ihr zu rufen.

Sie bog links um die Ecke.

Ihre letzten Worte aber hallten noch nach.

Fünfzehn Jahre vergingen, die Jahrtausendwende, und dann ging alles plötzlich sehr schnell: Man verkaufte das Haus, entließ Kolande und sanierte die Fassaden auf beiden Seiten. Das Haus, in dem Kolande wohnte, erstrahlte auf Entscheidung der neuen Verwaltung von da an auf einmal in Apricot. Damit konnte Kolande gut leben. Was den Anstrich der 9 aber anging, war er entsetzt. – Gerade in dieser Sache musste es doch ein Mitspracherecht der Mieter geben, und zwar der Mieter des gegenüberliegenden Hauses! Wie lange hatte er dafür gekämpft! Und wie recht hatte er am Ende behalten.

Seit jenem verhängnisvollen Vormittag im August nämlich, an dem sich die Farbwahl für das Haus Nummer 9 endlich auch den Bewohnern der Straße offenbarte, unter ihnen Konrad Kolande, damals noch „Meister Kolande“ genannt, der seit frühmorgens erwartungsvoll im offenen Fenster lehnte, um die Sanierungsarbeiten zu verfolgen – seit jenem hochsommerlichen Vormittag also hat Kolande es tagtäglich mit Mintgrün zu tun, der Farbe der 9, und ist damit einem Anblick ausgesetzt, den man niemandem zum Frühstück wünscht, schon gar nicht im Winter.

Es ärgert Kolande, dass der junge Mann neuerdings in Eile ist. Der Durchgang, der die Sackgasse, in der sie vor kurzem noch wohnten, jetzt mit den Parallelstraßen verbindet, mochte für seine Hast verantwortlich sein. Vielleicht hat sich ihm ein neuer Weg eröffnet, mutmaßt Kolande, eine Abkürzung, die ihm so effektiv erscheint, dass er sich immer wieder verspätet.

Das Kind vorne an der Ecke schreit nicht mehr: Es hat sich hingehockt und verweigert nun jegliche Fortbewegung. Dies ist seine Rache – es würde bleiben, wo es war. Nach kurzer Zeit beginnt es, mit herumliegenden Steinchen zu spielen. Die Mutter versteckt sich zwischen den parkenden Autos.

Früher, in jungen Jahren, beschäftigte Kolande die Frage, was er anfangen sollte mit diesem angefangenen Leben. Wie oft hatte er sich diese Frage gestellt! In der letzten Zeit hingegen beschäftigen ihn immer seltener irgendwelche Fragen, denn Lücken machen sich in seinem Gehirn breit, dunkle Stellen, die vieles verschlucken. – Kolande spricht von seinem „schwarzen Loch“. Vieles geht, sagt er, wenn man sich am Fenster nach ihm erkundigt – und kommt dann wieder. Manches geht, und ist für immer weg. Er weiß nicht, was fehlt, und nicht immer hat er ein Gefühl für die Zeit, die vorübergeht, und die, die vergangen ist. Die Tage verschwimmen und Kolande verschwindet immer öfter in ihnen. Manchmal verschwindet er auch in sich selbst.

Es regnet in Strömen und der Morgen bricht an. Die Rollläden gegenüber, im Erdgeschoß der 9, sind heruntergelassen und Kolande sitzt nach wie vor am Fenster. Er kommt nicht mehr weit. Oft nickt er hier ein, schlummert und träumt vor sich hin, bei Tag wie bei Nacht.

Gegenüber wankt indessen ein junger Mann den Gehsteig entlang, steuert angetrunken die 9 an wie ein Schiff auf hoher See, streckt die Hand aus nach dem rettenden Mauervorsprung, verfehlt ihn, wankt weiter, an der farblosen Fassade der 9 vorbei, tiefer in die Sackgasse hinein.

„Was willst du eigentlich von mir?“, hatte sie zu ihm gesagt, und die Worte hallten nach. Sie passten, wie der junge Mann fand, zum Regen. Wer war sie überhaupt. Oder, noch interessanter, für wen hielt sie sich. Sie hatte kein Interesse an seinen „stadtsoziologischen Studien“, Produkt und Effekt seines Lotterlebens, wie sie sagte. „Du bist doch hängengeblieben!“ Was für ein Satz. Am Ende kam es immer anders und schlimmer, wie der strömende Regen bewies, als man es anfangs für möglich gehalten hätte.

Plötzlich ratterte es laut, ein Rollladen ging ruckartig hoch, und hinter der Scheibe tauchte der Erdgeschoßbewohner der 9 auf. Er ging auf die siebzig zu und sein Blick ging förmlich durch ihn hindurch. Noch ist nicht aller Tage Abend, stand unweit der Mauer auf einer Häuserwand geschrieben, und er musste, als er diese Augen sah, an die Baulücke denken, die sich vor dem Schriftzug auftat.

Hausmeister?

Das war es vielleicht!

Er würde sich für die Sanierung der Fassaden einsetzen, die längst fällig war, würde, was den Farbanstrich der Häuser betraf, die Meinungen der Bewohner auf beiden Straßenseiten einholen, und würde weiterhin das Erdgeschoß bewohnen, am Ende der Sackgasse, im Haus gegenüber der 9.

Und er torkelte auf die andere Seite.

Kolandes Blick schweift von der mintgrünen 9 nach links, dann wieder zurück, an den geschlossenen Rollläden vorbei, so weit sein Blick reicht. Es regnet kaum noch, eine Kehrmaschine fährt auf dem Gehweg vor seinem Fenster vorüber und der Tag, so scheint es, beginnt. Obwohl er durch die Scheibe nicht weit sehen kann, so weiß er doch – natürlich weiß er das –, dass die Straße rechts in einer Sackgasse endet. Endete, genauer gesagt, denn im Zuge der städtebaulichen Umgestaltung ist ein Durchgang für Fußgänger entstanden, der die einstige Sackgasse neuerdings mit den parallelen Straßen verbindet. Die asphaltierten Wege sind begehbar, aber noch von Bauzäunen gesäumt, denn man hat die Erweiterungsbauten gestoppt und die Baustelle liegt seitdem brach.

Der Asphalt auf den Wegen ist ein Stilbruch seines Erachtens, die Farbe für seinen Geschmack zu dunkel.

Tag für Tag gingen früher vor allem Bewohner und der Briefträger an seinem Fenster vorüber. Alle heiligen Zeiten marschierte ein Gerichtsvollzieher in die Sackgasse hinein und Trauermärsche in die andere Richtung waren manchmal die Folge. Nun, mit dieser neuen Durchlässigkeit, sieht Kolande immer seltener Leute, die er kennt. Viele Fremde passieren sein Fenster, probieren eine Abkürzung aus, legen neue Wege fest und gewöhnen sich an sie. Manchmal grüßen ihn Leute mit erhobener Hand, er kann sie durch das Fenster nur selten erkennen.

Der Wind fegt die ersten Blätter durch die Straße, an Kolandes Fenster und der 9 vorbei, und die kalte Jahreszeit kündigt sich an. Die Bauzäune an den Rändern der asphaltierten Wege werden in einer stürmischen Nacht umgeweht. Die Regenrinne des Hauses, in dem Kolande wohnt, verstopft, läuft über und das Wasser klatscht monatelang gegen das Mauerwerk. Kondenswasser tropft auf das Fensterbrett und versickert in dem Riss, der sich immer länger durch den hellen Lack zieht. Schnee legt sich wie Staub auf die Gehwege. Dann kommt der Frühling und nach ihm der Sommer. Die Erweiterungsbauten sind vorerst beendet, die Bauzäune verschwinden und die neuen Wege sind angelegt. Lichtflecken zeichnen sich an der mintgrünen Wand gegenüber ab, auf Höhe der ersten Etage wehen die Blätter der Robinie – und zwischen den Autos steht, immer noch wartend, die Mutter.

Mittlerweile werden im Erdgeschoß die Rollläden auch nachts nicht mehr heruntergelassen und die Bewohner der Straße, die Kolande kennen, rechnen mit dem Schlimmsten, ein jeder für sich. Im Vorbeigehen späht man durch die Scheiben, wenn man sich traut, vor allem bei Nacht, und glaubt, ein schwarzes Loch im Innern zu sehen: Es hat Kolande mitsamt seines Wohnraums verschluckt. Im Morgengrauen aber sieht man ihn wieder, am Fenster sitzend, umgeben von Apricot, den Blick unverwandt auf die 9.

 

TEXT MARIE LUCIENNE VERSE: "An der Brache"

 

Ich erzählte Laura und Angelo, wie Tom das Messer am Hals des Igels angesetzt hatte. Dass ich vom kratzenden Geräusch der Igelstacheln an der

scharfen Messerklinge am ganzen Körper Gänsehaut bekommen hatte, erzählte ich den beiden nicht. Laura war eine aufmerksame Zuhörerin. Sie nickte zustimmend und stellte in den passenden Momenten genau die richtigen Fragen. Angelo saß teilnahmslos neben ihr und malte mit der Fingerkuppe Muster in den Sand. Auf jeden Fall, sagte ich und ließ eine Atempause, um Spannung zu erzeugen, hat er den Kopf des Igels mit einem Schnitt durchtrennt. Und wie sah es in dem Igel aus, fragte Laura. Sie wirkte vollkommen unerschrocken. Angelo hielt inne und schaute auf.

Ich tat, als müsste ich kurz überlegen, dabei wusste ich noch genau, wie das Innere des Igels ausgesehen hatte. Rot, glänzend und irgendwie wabbelig.

Angelo verzog das Gesicht und strich den Sand mit der Handinnenfläche wieder glatt.

Es brannte kein Licht im Flur. Seit Mama als Zugbegleiterin arbeitete, war sie nur noch selten zu Hause. Manchmal kam sie erst am nächsten Tag, übernachtete in bahnhofsnahen Hotels in Städten, deren Namen ich nie zuvor gehört hatte. Wenn sie wiederkam, hatte sie ein schlechtes Gewissen und brachte uns Shampoo, Seife oder Handtücher aus den Bädern der Hotelzimmer mit.

Tom schwänzte mehrmals pro Woche die Schule. Er müsse ausnutzen, dass er die Wohnung tagsüber jetzt ganz für sich allein habe, erklärte er mir, steckte die mit Frischhaltefolie umwickelten Brote, die Mama im Morgengrauen oder am Vorabend geschmiert hatte, in die Seitentasche meines Rucksacks und schob mich ins Treppenhaus.

Wieso hast du nicht schneller ein zweites Kind bekommen, hatte Tom Mama gestern Abend gefragt. Sie lag auf der Couch, der Fernseher lief ohne Ton, der schwarze Blazer ihres Schaffnerinnenkostüms lag neben ihr auf dem Teppich, die rot-weiß gestreifte Krawatte hing noch um ihren Hals. Sie hatte nur den Knoten gelockert.

Zu hören, dass Tom sich einen Bruder wünschte, der vielleicht selbst auf die Idee gekommen wäre, einem Igel die Kehle durchzuschneiden und ihm nicht nur dabei zusah, betrübte mich.

Nach den Ferien kam Tom in eine neue Klasse und ging wieder öfter zur Schule. Manchmal wirkte er geradezu euphorisch, wenn er nach Hause kam.

Am Nachmittag und am Abend traf er sich mit anderen aus seiner Klasse an der Brache. Sogar Leute aus den Nachbardörfern und der Kreisstadt kamen dorthin, als gebe es bei ihnen keine abgetretenen Rasenflächen mit aufgerissenen Wegen, auf denen eine Tischtennisplatte und ein paar Holzbänke standen. Wer zur Brache ging, trank Bier oder trug eine Bomberjacke. Angelos Bruder zum Beispiel hätte nicht einfach zur Brache gehen können, das wusste er und wir wussten es auch.

Wenn ich unter einem Vorwand in Toms Zimmer kam, saß er auf seinem Bett, den Laptop auf dem Schoß, den Bildschirm zur Wand gerichtet. Seit kurzem nannte er mich nur noch Kleiner. Ey, Kleiner, rief Tom, als ich sein Zimmer wieder verlassen wollte. Schaffst du es, innerhalb von zehn Sekunden meine Jacke in die Waschmaschine zu stecken? 40 Grad, Schnellwaschgang. Die Waschmaschine lag im Keller des Mietshauses. Ich flitzte sofort los. Als ich völlig außer Atem wiederkam, stellte ich fest, dass Tom die Zeit nicht gestoppt und seinen Blick keine Sekunde vom Bildschirm gelöst hatte. Um ihm eine Reaktion zu entlocken, sprang ich auf sein Bett und hüpfte auf der Federmatratze auf und ab. Das wirkte. Tom klappte seinen Laptop zu, schnappte sich meine Beine, schwang mich über seine Schulter und trug mich kopfüber aus dem Zimmer.

 

Die Sache mit dem Denkmal hörte ich zum ersten Mal an der Kasse im Supermarkt. Ein vergrabener Soldat wurde gefunden, erzählte der Fichter dem Penschow. Im Garten von der Schleevoigt. Er stehe zwischen ihren Gartenzwergen und Windspielen, in der einen Hand halte er ein Gewehr, in der anderen einen Helm. Gruselig sehe das aus, sagte der Fichter und legte sein Tiefkühlhähnchen auf das Kassenband. Auf dem Rückweg lief ich am Garten der Schleevoigt vorbei, um mir den Soldaten anzusehen. Er stand neben dem mit Seerosen bedeckten Teich, breitbeinig, den Kopf gehoben. Braune Erdreste klebten in den Falten seiner steinernen Uniform. Im Dorf wurde sich erzählt, dass der Soldat im zweiten Weltkrieg gekämpft habe, aber niemand wusste es genau und die Schleevoigt verließ ihr Grundstück nur selten oder zu ungewöhnlichen Tageszeiten. Ich stellte mir vor, sie habe einen riesigen Keller, in dem sie Lebensmittel für die nächsten zwei Jahre hortete, eine Landschaft aus Bergen von Kartoffeln und zu Türmen gestapelten Konserven.

An einem Nachmittag im November kamen zwei von Toms Freunden zu uns nach Hause. Sie rochen nach Weichspüler und Zigarettenrauch und schnell entzog ich mich ihren klobigen Händen, die sie zur Begrüßung auf meinen Kopf legten, als wollten sie mich vor etwas schützen. Die Wände in unserer Wohnung waren so dünn, dass ich alles verstehen konnte, was sie sagten.

Endlich passiert mal wieder was in diesem Drecksloch, hörte ich den einen. Dann nannten sie Namen, die heute niemand mehr trägt, und verglichen Bilder im Internet mit dem Soldaten in Schleevoigts Garten. Irgendwann machten sie Musik an, so laut, dass ich sie nicht mehr verstehen konnte. Heute Nacht kannst du mitkommen, sagte Tom später. Ich nickte und versuchte, mir meine Vorfreude nicht anmerken zu lassen. Abends fand ich keine Position, in der ich einschlafen konnte und lauschte auf jedes Geräusch aus der Wohnung und von der Straße. Als Tom endlich in mein Zimmer kam, sprangen die Ziffern des Weckers auf 3:33 AM um. Tom leuchtete mir mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht, als wolle er sich vergewissern, dass ich meine Augen auch wirklich geöffnet hatte. Danach sah ich überall nur schwarze und weiße Punkte.

Wir trafen die anderen vor den Garagen der KFZ-Werkstatt, in der Lauras Vater arbeitet. Sie wirkten konzentriert, als wären sie in Gedanken bereits an einem anderen Ort und niemandem fiel auf, dass ich zum ersten Mal dabei war. Erst, als einer Dosenbier aus seinem Rucksack holte und nacheinander die Verschlüsse klickten, löste sich die angespannte Stimmung. Auch ich bekam ein Bier. Lauwarm lag die Dose in meiner Hand. Schnell trank ich einen Schluck, bevor jemand auf die Idee kommen würde, sie mir wieder wegzunehmen.

An der Kreuzung bildeten wir Dreiergruppen und liefen auf unterschiedlichen Wegen zum Garten der Schleevoigt. Hin und wieder sahen wir die anderen von

weitem in einer der Parallelstraßen.

So, jetzt seid ihr dran, raunte Tom mir zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf Niko, einen Typen mit kantigem Gesicht, der noch kleiner und dünner war als ich. Das breiteste an ihm waren seine Segelohren, die seinem Äußeren etwas seltsam Symmetrisches verliehen. Niko zerquetschte seine leere Bierdose mit einer Hand, warf sie über die Hecke und grinste uns herausfordernd an.

Bist du bescheuert, empörte sich einer. Entspann dich, sagte Niko, die bring ich gleich wieder mit. Also, sagte ein anderer. Da unten müsst ihr durch. Er schob ein paar Sträucher zur Seite. Unten wuchs die Hecke weniger dicht, eine schmale Lücke kam zum Vorschein. Den Zweitschlüssel hat die Schleevoigt da hinten beim Geräteschuppen versteckt. Den holt ihr euch und dann macht ihr uns das Tor auf. Alles klar?

Ich nickte. Es kitzelte in meinem Bauch wie letztes Jahr beim Sportfest kurz vorm Startschuss zum 100-Meter-Sprint. Niko sah aus, als ginge es ihm ähnlich. Ich suchte seinen Blick, aber er schaute immer ganz knapp an mir vorbei. Tom gab mir mit der Hand ein Zeichen, dass ich vorgehen sollte und nickte mir aufmunternd zu. Ich setzte meine Kapuze auf, legte mich flach auf den Boden und zwängte mich mit dem Kopf voran durch die Lücke in der Hecke. Dornen kratzten an meinen Wangen, meiner Stirn, stachen in meine Hüfte, aber es tat nicht sehr weh, dann war ich schon drüben. Bis auf einen matten Lichtschimmer hinter der Milchglasscheibe der Eingangstür war es völlig dunkel. Einen kurzen Augenblick glaubte ich, einen Schatten hinter der Tür zu erkennen, aber als ich erneut hinsah, war es nur das Licht, das flackerte. Ich lief Richtung Teich, Äste knackten unter meinen Füßen. Mit den Fingerspitzen ertastete ich die Konturen des Soldaten, den kalten Stein, der an manchen Stellen ganz glatt, an anderen bröckelig war. Ich dachte darüber nach, was ich Laura und Angelo morgen erzählen würde und stellte mir ihre ungläubigen Gesichter vor. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und ich erkannte die Gartenzwerge neben mir, einer spielte Mundharmonika, ein anderer hing an einem Seil vom Baum. Niko hatte es auch auf die andere Seite geschafft. Er hatte eine Schürfwunde am Arm, die in der Dunkelheit aussah, als würde sie glitzern.

Hast du den Schlüssel schon? Er schaute sich hektisch um. Ich schüttelte den Kopf. Die Tür des Geräteschuppens war offen. Ich knipste das Licht an. Mach das wieder aus, fuhr Niko mich an und ich gehorchte. Ich ertastete Blumentöpfe, einen Rasenmäher, Säcke mit Blumenerde und weitere Gartenzwerge, die vielleicht noch auf ihren Einsatz warteten. So finden wir den Schlüssel nie. Ok, dann mach das Licht halt wieder an, sagte Niko und gab mir mit seinem Ton zu verstehen, dass ich die alleinige Verantwortung tragen würde, falls uns jemand erwischte. Wir fanden den Schlüsselbund unter einer Plastiktüte mit verrosteten Heckenscheren. Niko schnappte ihn sich und hielt ihn triumphierend nach oben. Dann klopfte er mir auf die Schulter, so fest, dass mir fast die Luft wegblieb. Wir rannten über den Rasen und öffneten das Gartentor. Die anderen jubelten lautlos. Tom und drei andere stemmten sich gegen den steinernen Körper des Soldaten, bis dieser umkippte und mit dem Gesicht nach vorn im Gras landete, der Lauf des Gewehres zeigte in Nikos und meine Richtung. Sie trugen ihn wie einen Verwundeten oder eine starr gewordene Leiche nach draußen.

Wir liefen durch die leeren Straßen zur Brache und ich fühlte mich, als hätte ich beim Sportfest in jeder Disziplin den ersten Platz belegt. Als wir ankamen, ließ das Gefühl schnell wieder nach. Tom meinte, ich solle jetzt lieber mal nach Hause gehen. Kurz fürchtete ich, er würde mir verbieten, das Bier auszutrinken, das mir gerade erst jemand in die Hand gedrückt hatte. Aber er schüttelte nur den Kopf und ging zu den anderen. Aus Trotz trank ich mein Bier aus, ohne es abzusetzen und holte mir noch eins aus dem offenen Rucksack, den jemand achtlos ins Gras geworfen hatte. Ich trank das dritte Bier noch schneller als das zweite. Ich wollte herausfinden, was Tom meinte, wenn er den anderen erzählte, wie besoffen er am Wochenende gewesen war. Als ich die leere Dose absetzte, spürte ich es sofort. Es fühlte sich ähnlich an wie vorhin, nur irgendwie dumpfer. Es erinnerte mich an das Gefühl nach dem Tauchen beim Schwimmunterricht, wenn ich fast drei Minuten unter Wasser geblieben war. Niemand aus meiner Klasse traute sich, so lange unter Wasser zu bleiben. Drei aus der Gruppe holten einen riesigen Kranz, den sie zu Füßen des Soldaten niederlegten. Der Kranz war mit einem schwarz-roten Band verziert, dessen altertümlich verschnörkelten Schriftzug ich aus der Distanz nicht entziffern konnte. Tom winkte mich zu sich heran. Geh jetzt mal nach Hause, sagte er. Nächstes Mal kannst du wieder mitkommen.

Einer holte Fackeln aus seinem Rucksack und verteilte sie. Nur jeder zweite bekam eine und ich fand es nur gerecht, dass Tom auch keine bekam. Du musst jetzt gehen, sagte er, schaute mich eindringlich an und umfasste mit seiner Hand meinen Oberarm, sodass ich jeden einzelnen seiner Finger spürte. Ich riss mich los, kickte die leere Bierdose in seine Richtung und ging, ohne mich zu verabschieden. Während ich mich von der Brache entfernte, fiel mir ein, dass Nikos Bierdose immer noch im Garten der Schleevoigt lag. Ich folgte der Straße, bis ich außer Sichtweite war, dann lief ich auf einem Umweg zurück zur Brache. Die erste Fackel brannte und steckte vor dem Soldaten in der Erde. Ich versteckte mich hinter ein paar dicht beieinander stehenden Sträuchern. Nacheinander entzündeten die anderen ihre Fackeln, streckten ihre Arme in die Luft und bildeten einen Halbkreis um den Soldaten. Diejenigen, die keine Fackeln trugen, verschränkten ihre Arme hinter dem Rücken. Einer holte einen Zettel aus seiner Tasche, faltete ihn auseinander und drückte ihn Tom in die Hand. Tom hielt ihn, als könne er jeden Moment davonwehen und ging mit zögerlichen Schritten auf den Soldaten zu. Alle verstummten. Tom las mit einer sehr tiefen und ruhigen Stimme vor. Ich war zu weit weg, um alles zu verstehen, die einzelnen Worte schienen von den breiten Rücken der anderen abgeschirmt zu werden. Der Soldat schaute schräg über Tom hinweg, ungefähr in meine Richtung und sah aus, als interessiere ihn die Szene überhaupt nicht, die sich da direkt vor seinen Augen abspielte. Plötzlich geriet Tom ins Stottern, seine Stimme überschlug sich, wurde ganz hoch und fipsig. An den Bewegungen der anderen merkte ich, dass sie unruhig wurden, einige der hochgereckten Arme drohten, herabzusinken. Am liebsten wäre ich zu Tom gerannt und hätte den nächsten Satz für ihn entziffert. Er hielt inne, strich mit der flachen Hand über das Papier, als müsse er es glätten, um die Schrift zu erkennen, dann las er mit einer festeren Stimme als zuvor weiter. Als er zu Ende gelesen hatte, klatschten diejenigen, die keine Fackel in der Hand hielten und die anderen streckten ihre Arme noch höher in die Luft.

Der Halbkreis rückte enger zusammen. Sie schwiegen, ihre Köpfe Richtung Boden gesenkt. Jetzt war es unmöglich, mein Versteck unentdeckt zu verlassen. Ich zählte die Sekunden wie beim Tauchen, immer wieder bis zehn, und dann, wenn ich glaubte, es wirklich nicht mehr auszuhalten, nochmal bis zehn. Endlich löste sich der Halbkreis auf. Eine seltsame Hektik brach aus.

Einige erteilten stumme Anweisungen durch Handzeichen und Kopfbewegungen. Vier trugen die Statue Richtung Straße. Niko schaute sich suchend um. Tom fuhr sich immer wieder durch die Haare. Dann liefen sie los, die Straße entlang, die aus dem Ort führte. Ich wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren, dann kam ich hinter den Sträuchern hervor und ging zur Brache.

Der morgige Schultag kam mir plötzlich sehr weit weg vor und ich konnte mir nur noch schwer vorstellen, was ich Laura und Angelo in der Pause erzählen würde. Rauchschwaden stiegen von den abgebrannten Fackeln auf.

Tannennadeln, die sich vom Kranz gelöst hatten, lagen auf dem Boden verstreut. Der Sockel der Statue hatte einen blassen Abdruck auf dem Gras hinterlassen.

 

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