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Aspergers Kinder

Die Geburt des Autismus im 'Dritten Reich'

Erschienen am 04.10.2018, Auflage: 1/2018
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593509433
Sprache: Deutsch
Umfang: 340 S., mit Lesebändchen
Format (T/L/B): 2.6 x 22.1 x 14.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Wien 1938: Der Arzt Hans Asperger beschreibt Symptome bei Kindern, die er unter die Diagnose »autistische Psychopathie« fasst. Er hatte bei Patienten Schwächen im sozialen Verhalten beobachtet. Im selben Jahr ziehen die Nationalsozialisten in Wien ein. Asperger sollte bald verantworten, dass Kinder, die er für »nicht sozial integrierbar« hielt, in der Anstalt Am Spiegelgrund zu »Euthanasie«-Opfern wurden. Edith Sheffer, Mutter eines von Autismus betroffenen Kindes, hat sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Diagnose begeben. Sie zeigt, welche Wertvorstellungen Asperger geprägt haben und welche Entwicklung die Diagnose genommen hat. Ihr berührendes und eindrucksvolles Buch wirft ein neues Licht auf die Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus und auf das Asperger-Syndrom.

Autorenportrait

Edith Sheffer ist Historikerin und Senior Fellow am Institute of European Studies an der University of California, Berkeley.

Leseprobe

Einleitung Was ist der Unterschied zwischen einem Schmetterling und einer Fliege? "[D]er Schmetterling wächst nicht im Zimmer auf wie die Fliege", erklärt Harro. Die Frage ist Teil eines Intelligenztests. Harro möchte mehr über die Fliege erzählen: [Die Fliege] hat eine gaaanz andere Entwicklung! [] Die Fliegenmutter legt viiiele Eier in eine Dielenritze hinein und dann in ein paar Tagen kriechen Maden heraus; ich hab das einmal in einem Buch gelesen, da erzählt der Fußboden - ich muss mich halbtot lachen (!), wenn ich dran denk: "Was guckt da heraus aus dem Tönnchen, ein riesiger Kopf mit einem winzigen Körper und einem Rüssel wie ein Elefant?" Und dann nach ein paar Tagen verpuppen sie sich wieder und dann kriechen auf einmal ganz herzige kleine Fliegen heraus. Der achtjährige Harro lebt gemeinsam mit anderen Kindern ebenfalls in einem Kokon, abgeschirmt in der Heilpädagogischen Abteilung der Universitäts-Kinderklinik in Wien. Wie die eigenartig geformten Larven fallen diese Kinder auf. Ihre eigentümlichen Wesenszüge stoßen im "Dritten Reich" auf Ablehnung, und die Ärzte und Krankenschwestern in der Abteilung bemühen sich, die Psyche der Kinder zu korrigieren. Hans Asperger, der Leiter der Abteilung, ist der Meinung, mit dem "volle[n] Einsatz des liebenden Erziehers" sei es möglich, dafür zu sorgen, dass "auch solche Menschen ihren Platz in dem Organismus der sozialen Gemeinschaft" fänden. Asperger spricht über die einzigartigen Persönlichkeiten der Kinder, die er behandelt, und nimmt für sich in Anspruch, seine Methode ihren individuellen Bedürfnissen anzupassen. Er wählt einen ganzheitlichen Ansatz. Die Kinder gehen im eleganten, geräumigen Widerhofer-Pavillon verschiedensten Aktivitäten nach: Sie betreiben Sport, spielen Theater, musizieren. Asperger setzt sich mit den Kindern hin und krümmt seinen hochgewachsenen Körper, um sich seinen kleinen Patienten anzupassen. Sein aufmerksamer Blick fängt sämtliche Nuancen ihres Verhaltens ein, das er in seiner Habilitationsschrift beschreiben wird. Der Fall des achteinhalb Jahre alten Harro zählt zu den Fallstudien, aus denen Asperger eine neue Dia­gnose ableitet: die "autistische Psychopathie". Harros Schule hat die Universitäts-Kinderklinik um eine Beurteilung des Jungen gebeten. Aus dem Bericht der Schule geht hervor, dass Harro selten Anweisungen befolgt. Er widerspricht den Lehrern, macht seine Hausaufgaben nicht und beklagt sich über den Unterricht, der ihm "viel zu dumm" scheint. Er wird immer wieder zum Ziel des Spotts seiner Klassenkameraden und reagiert auf geringste Provokationen sehr aggressiv: Kleinigkeiten versetzen ihn derart in Wut, dass er andere Jungen attackiert und verletzt. Er krabbelt während des Unterrichts auf allen Vieren durch das Klassenzimmer, und es gibt sogar Berichte darüber, dass es zu "argen sexuellen Spielereien mit anderen Knaben" einschließlich von "Coitusversuchen" gekommen ist. Dabei hat seine Lehrerin den Eindruck, dass er "könnte, wenn er wollte". Aber Harro ist in allen Fächern durchgefallen und muss das Schuljahr wiederholen. Es fällt den Betreuern in der Heilpädagogischen Abteilung schwer, Harro zu testen. Er verweigert oft die Mitarbeit und scheitert an gewöhnlichen Aufgaben. Auf der anderen Seite beweist der Junge in bestimmten Bereichen für sein Alter ungewöhnliche Fähigkeiten. So wählt er beispielsweise beim Rechnen eigene Lösungswege. Wie viel ist 47 weniger 15? "[E]ntweder 3 dazugeben und zu dem, was weg soll, auch 3 dazugeben, oder erst 7 weg und dann 8." Asperger gelangt zu der Überzeugung, dass diese "besondere Originalität des Denkens und Erlebens" Jungen wie Harro "besondere Leistungen im späteren Leben" ermöglichen werden. Das Problem sieht Asperger darin, dass es Harro an sozialem Empfinden mangelt. Der Arzt beobachtet, dass sich der Junge von Gruppen oft absondert und in der Abteilung "nie warm, zutraulich, fröhlich" ist. Harro nimmt nicht am sozialen Leben teil, er spielt nicht mit den anderen Kindern, sondern sitzt lieber teilnahmslos mit einem Buch in einer Ecke. Er versteht keinen Spaß, "auch wenn dieser sich gar nicht gegen ihn richtet; er ist "ganz humorlos". Sein Blick ist "oft ganz verloren und abwesend", er ist "sehr arm an Mimik und Gestik"; dazu passt seine "allgemeine Steifheit und Ungeschicklichkeit". Asperger gelangt zu dem Schluss, dass Harro unter einer "autistischen Psychopathie" leidet. Aufgrund seiner Intelligenz ist er jedoch im "günstigen" Bereich des autistischen Spektrums anzusiedeln. Das bedeutet, dass seine Persönlichkeit korrigiert werden kann, womit es ihm möglich sein sollte, sich in den "Organismus der sozialen Gemeinschaft" einzufügen. Kinder wie Harro können nach Ansicht Aspergers "soziale Integration" lernen und in spezialisierten technischen Berufen "sozialen Wert" haben. Diese Kinder brauchen seiner Einschätzung nach eine individuelle Betreuung, um ihr kogni­tives und emotionales Wachstum anzuregen. Asperger kann ihre Schwierigkeiten nachvollziehen, er sieht ihr Potenzial und preist ihre Einzigartigkeit. Dies ist das wohlwollende Bild, das wir uns heute von Hans Asperger machen. Aber dieses Bild stellt nur eine Seite seiner Arbeit dar. Asperger verteidigte "erziehungsfähige" autistische Kinder, die er unterstützen wollte. Gleichzeitig äußerte er sich geringschätzend über Kinder, die er für stärker behindert hielt. Und abfällige Äußerungen über die Psyche eines Menschen konnten im Dritten Reich ein Todesurteil sein. Tatsächlich waren die Urteile Hans Aspergers über einige Kinder Todesurteile. Harro bestand Aspergers Tests, aber mit dem Etikett der "autistischen Psychopathie" unterschätzte der Arzt diesen Jungen. Asperger behauptete, autistische Kinder passten nicht richtig in die Welt und wirkten, als seien sie "vom Himmel gefallen". Doch Harro war keineswegs gefallen. Wie die Fliege, die er so schön beschrieb, suchte er einfach seinen eigenen Weg: [D]ie Fliege ist viel geschickter und kann auf glitschigem Glas hinaufspazieren und auf die Wand hinaufklettern. [] Gerade gestern habe ich eine gesehen, die hat ganz kleine Klauen auf den Füßen und auf den Enden winzige Häkchen; wenn sie fühlt, dass sie ausglitscht, dann hängt sie sich mit den Häkchen ein. Es geht hier jedoch nicht um die Geschichte eines Jungen. Es geht auch nicht um die Kinder am "günstigeren" Ende von Aspergers autis­tischem Spektrum. Vielmehr geht es in diesem Buch um all jene Kinder, die dem Diagnoseregime der NS-Psychiatrie ausgeliefert wurden. Es geht darum, wie die Psychiater in der NS-Zeit den Verstand dieser Kinder beurteilten und über ihr Schicksal entschieden. In medizinischen Diagnosen kommen auch die Wertvorstellungen, Befürchtungen und Hoffnungen einer Gesellschaft zum Ausdruck. In diesem Buch werden wir die albtraumhafte Welt betrachten, in der die Diagnose "Autismus" entstand, und wir werden sehen, dass etwas, was heute wie eine außergewöhnliche Idee wirkt, das Produkt einer Gemeinschaft war: Aspergers Diagnose der "autistischen Psychopathie" hatte ihren Ursprung in den Wertvorstellungen und In­stitutionen des Dritten Reichs. Der Begriff "Autismus" wurde im Jahr 1911 von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler eingeführt, der den Terminus zur Beschreibung schizophrener Patienten verwendete, die keine Beziehung zur Außenwelt herstellen konnten. Hans Asperger und Leo Kanner, ein in Österreich-Ungarn geborener Arzt, waren die Ersten, die den Autis­mus als eigene Diagnose zur Beschreibung bestimmter Charakteristika des sozialen Rückzugs verwendeten; andere hatten Kinder mit ähnlichen Merkmalen beschrieben, diese Patienten jedoch als schizoid eingestuft. Im Lauf der Jahre wuchs das Interesse der Psychiater an Kindern, die sich anscheinend von ihrer Umwelt isolierten. Zur Einstufung solcher Kinder wurden verschiedene Begriffe geprägt. Kanner, der 1924 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, wo er am Johns Hopkins Hospital arbeitete und zum Vorreiter der amerikanischen Kinderpsychiatrie wurde, veröffentlichte im Jahr ...

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